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Urteil: Hartz-IV-Sanktionen sind zum Teil verfassungswidrig

Die umstrittenen Sanktionen bei Verletzungen der Mitwirkungspflicht im Hartz-IV-System sind nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in ihrer aktuellen Fassung nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Leistungskürzungen seien maximal bis zu einer Höhe von 30 Prozent zulässig. Zudem vergrößert das Gericht den Ermessenspielraum der Jobcenter.

Kürzungen der Hartz-IV-Leistungen, die die Höhe von 30 Prozent des Regelbedarfs überschreiten, sind nicht verfassungsgemäß. Das verkündete das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil am Vormittag des 5. November 2019. Sanktionen gegen über 25-Jährige im Hartz-IV-Bezug aufgrund von Pflichtverletzungen stehen nach Auffassung des Ersten Senats in ihrer derzeitigen gesetzlichen Ausgestaltung im Widerspruch zu Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG.

Leistungskürzungen in Höhe von 60 oder 100 Prozent („Vollsanktion“) dürfen daher nach Auffassung des Gerichts nicht länger verhängt werden. Außerdem urteilte das Gericht in Karlsruhe, dass Sanktionen nicht verfassungsgemäß sind, wenn sie sogar in Härtefällen zwingend verhängt werden müssen und für sie eine Dauer von drei Monaten festgeschrieben ist.

Sanktionen nicht per se verfassungswidrig

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts konnte jedoch keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen einer Leistungskürzung und dem Grundgesetz feststellen. So wird in der Urteilsbegründung darauf verwiesen, dass eine Durchsetzung der gesetzlichen Mitwirkungspflicht im Hartz-IV-System verfassungskonform ist. Der Vizepräsident Stephan Harbarth fasste diese Auffassung in der Urteilsverkündung so zusammen: „Der Gesetzgeber darf von Menschen verlangen, dass sie die Brücke zur Erwerbstätigkeit beschreiten.“ Die aktuelle Ausgestaltung der Leistungskürzungen sei allerdings nicht verhältnismäßig.

Ermessenspielraum der Jobcenter wird erweitert

Als Übergangsregelung für Sanktionen im Hartz-IV-System dürfen Jobcenter dem Urteil zufolge gegenüber über 25-Jährigen Leistungsberechtigten nur noch Sanktionen bis zu einer Höhe von maximal 30 Prozent verhängen. Allerdings seien diese nicht als zwingende Folge von Pflichtverletzungen eintreten. Stattdessen sei den Jobcentern ein Ermessenspielraum in besonderen Härtefällen zu gewähren. Ebenfalls sei von einer Sanktion abzusehen, wenn der Zweck der Überwindung der Hilfebedürftigkeit nur ohne den Einsatz der Sanktion erreicht werden kann.

Zudem sei eine starr vorgeschriebene Dauer der Sanktion von drei Monaten nicht verfassungskonform. Das Bundesverfassungsgericht gelangte zu dem Schluss, dass die Dauer der Leistungskürzung nicht vom (späteren) Erfüllen der Mitwirkungspflicht abgekoppelt sein darf. Sanktionen müssen dem Urteil zufolge wieder aufgehoben werden können, sobald die Mitwirkung der Leistungsberechtigten erfolgt ist. Dies muss auch dann gewährleistet sein, wenn ein Nachholen der Mitwirkungspflicht nicht mehr möglich ist. In diesen Fällen müsse die Sanktion dann wieder aufgehoben werden, wenn die sanktionierte Person ihre Bereitschaft zur Erfüllung der Mitwirkungspflicht „ernsthaft und nachhaltig“ erklärt.

Über die schärferen Sanktionen gegenüber unter 25-Jährigen im Leistungsbezug sowie über Sanktionen bei Meldeversäumnissen, die rund 77 Prozent aller Sanktionen ausmachen, wurde kein Urteil gefällt. Harbarth wies explizit darauf hin, dass diese Entscheidung dem Gericht nicht vorgelegt worden war. Daher bezieht sich das Urteil ausschließlich auf Leistungskürzungen in Folge von Verletzungen der Mitwirkungspflicht bei über 25-jährigen Leistungsbeziehenden.

Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Darstellung O-Ton Arbeitsmarkt.

von Lena Becher



Zum Weiterlesen:

Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Bezug von Arbeitslosengeld II teilweise verfassungswidrig, Pressemitteilung Nr. 74/2019 des Bundesverfassungsgerichts, 05.11.2019.

O-Ton Arbeitsmarkt, Hartz-IV-System: Drei Viertel der Sanktionen wegen versäumter Termine, 10.04.2019.

Sell, Stefan (2019), Kurz vor der Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionen im Hartz IV-System: Ein Blick auf das Eigenleben von 3 Prozent, in: Aktuelle Sozialpolitik, 05.11.2019.