14. September 2016
Seit der Einführung des Mindestlohns ist die Zahl der Aufstocker deutlich gesunken. Verschwunden ist die Gruppe der Menschen, die arbeiten und gleichzeitig Hartz IV beziehen aber nicht. Was bringt die Lohnuntergrenze also wirklich?
Seit Januar 2015 gilt in Deutschland ein flächendeckender Mindestlohn von 8,50 Euro. „Von Arbeit muss man leben können!“ war einer der wichtigsten Slogans, mit denen die Politik die Lohnuntergrenze öffentlich verkaufte. Doch anderthalb Jahre später gibt es zwar weniger Aufstocker in Deutschland, verschwunden ist das Phänomen der arbeitenden Hartz-IV-Empfänger aber nicht. Im Mai 2016 bezogen 1,19 Millionen Menschen Hartz-IV-Leistungen und arbeiteten. 1,09 Millionen von ihnen waren abhängig Beschäftigte. Die Differenz bilden selbstständige Aufstocker.
Ein Jahr zuvor, im Mai 2015, waren es allerdings noch 1,13 Millionen abhängig beschäftigte Aufstocker, vier Prozent mehr. Im Dezember 2014, dem letzten Monat ohne gesetzlichen Mindestlohn, stockten noch rund 1,16 Millionen Arbeitnehmer auf, sechs Prozent mehr als im Mai 2016.
Entsprechend ist auch die Geldsumme, die der Staat aufbringen muss, um Aufstocker-Haushalte auf Hartz-IV-Niveau zu heben um 300 Millionen Euro gesunken. 2015 summierten sich alle Zahlungen an Haushalte, in denen das Einkommen trotz Arbeit nicht zum Leben reichte, auf 10,54 Milliarden Euro. 2014 waren es noch 10,85 Milliarden Euro. (O-Ton berichtete).
Vom Minijob-Aufstocker zum Aufstocker in Teilzeit?
Auffällig ist vor allem der starke Rückgang der geringfügig beschäftigten Aufstocker, die mit Minijob Hartz-IV-Leistungen beziehen. Zwischen Dezember 2014 und Februar 2016 ist ihre Zahl von 466.000 auf 410.500 um etwa 12 Prozent gesunken. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Aufstocker hingegen ist leicht gestiegen. Im Dezember 2014 lag sie bei 571.000 Personen, im Februar 2016 bei rund 562.000.
Innerhalb der Gruppe der abhängig beschäftigten Aufstocker hat sich entsprechend die Verteilung auf die Arbeitsverhältnisse geändert. Neben einem deutlichen Rückgang des Anteils der Aufstocker mit Minijob ist der Anteil der Aufstocker in Teilzeit gestiegen und der Anteil der Aufstocker in Vollzeit leicht gesunken.
Zu vermuten ist daher, dass der Mindestlohn zu einer Verschiebung der Arbeitszeit und der Einkommen der Aufstocker „nach oben“ geführt hat. Aus Minijobbern sind möglicherweise sozialversicherungspflichtig beschäftigte Aufstocker in Teilzeit geworden, aus Aufstockern in Teilzeit nun Aufstocker mit einem Vollzeit-Job und aus Aufstockern in Vollzeit Erwerbstätige, die ganz ohne Hartz-IV-Leistungen auskommen. Möglich ist aber auch, dass vor allem geringfügige Jobs komplett gestrichen wurden – und die Menschen nun (wieder) vollständig abhängig von Hartz-IV-Leistungen sind.
„Mindestlohn-Effekt nicht zu hoch einschätzen“
Der Mindestlohn allein ist also offensichtlich nicht in der Lage, das Problem des Aufstockens für alle Betroffenen zu lösen. Darauf weist auch Prof. Stefan Sell von der Hochschule Koblenz hin. In seinem Blog „Aktuelle Sozialpolitik“ hat er die Entwicklung der Aufstocker analysiert. Er resümiert, dass zwei grundsätzliche Effekte gegen eine deutliche Reduktion der Aufstockerzahlen durch den Mindestlohn sprechen. Zum einen arbeite die ganz überwiegende Zahl der Aufstocker mit einem geringen Arbeitszeitvolumen. Hier müsste der Mindestlohn also „in sehr hohen Sphären angesiedelt sein“, um aus einer Teilzeitarbeit oder einem Minijob ein auskömmliches Einkommen zu machen. Dieser Sprung gelänge angesichts der Höhe der Lohnuntergrenze nur Alleinstehenden, die Vollzeit zum Mindestlohn arbeiten.
Zum anderen seien viele Aufstocker deshalb in der Situation, ergänzende Leistungen in Anspruch zu nehmen, weil sie in einer Bedarfsgemeinschaft leben und das Einkommen daher für alle Mitglieder des Haushalts reichen müsse. Angesichts der Defizite hinsichtlich der Leistungen für Kinder könne jemand auch mit einem höheren als dem derzeitigen Mindestlohn gar nicht aus der Bedürftigkeit seiner Bedarfsgemeinschaft herauskommen.
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